Im Porträt: Der Soziologe Mustafa Eren
von Sabine Zurschmitten
„Es ist in der Türkei sehr schwierig, Kurde, Alevit oder Linker zu sein, und die eigene oppositionelle Haltung in Forschungen und Publikationen zu zeigen. Ich bin nur einer unter vielen Menschen, die diese Schwierigkeiten haben.“
Mustafa Eren weiss ganz genau, wovon er spricht, wenn er in seinen soziologischen Gefängnisstudien die höchst prekären Haftbedingungen des türkischen Strafanstaltsregimes beschreibt und kritisiert. Aus politischen Gründen wurde er in der Türkei selbst dreimal verhaftet – seine längste Haft dauerte elf Jahre. Später setzte er sich viele Jahre als Projetkoordinator in türkischen Gefängnisprojekten der EU für die Rechte von Gefangenen ein. Aus dieser Innenperspektive hat er zahlreiche Bücher und Artikel über türkische Strafanstalten, Gefangenenrechte, soziale Bewegungen und über die politische Geschichte der Türkei veröffentlicht. Seine Studien (auf Türkisch) sind über seine Webseite zugänglich.
Im Interview reflektiert der Soziologe über seine Situation als geflüchteter Akademiker in der Schweiz: Er spricht dabei über Heimat, Statusverlust, Schnupperprogramme für Geflüchtete, Zukunftswünsche und den Bundesrat.
Was bedeutet für Sie der Begriff «Heimat»?
Es gibt Zugehörigkeiten, in die wir hineingeboren werden und die wir nicht ignorieren sollten. Für mich ist Heimat jedoch kein Stück Land. Ich fühle mich dem Universum zugehörig, nicht einem Land, einer Nationalität oder einer Religion. Es liegt klar auf der Hand, dass unsere Probleme universell sind. Der Klimawandel zeigt uns dies sehr deutlich. Entweder machen wir die Welt gemeinsam lebenswert oder wir werden zu Zeugen des Zusammenbruchs der Zivilisation.
Wie geht es Ihnen zurzeit? Können Sie uns Ihre aktuelle Situation als forschender Sozialwissenschaftler in der Schweiz schildern?
Ich versuche, mich an mein neues Leben in der Schweiz zu gewöhnen und mich anzupassen. Die erste Voraussetzung dazu ist, Deutsch zu lernen. Aus diesem Grund besuche ich einen Deutschkurs. Nachdem ich diese Barriere überwunden habe, werde ich mich mutig in der Zivilgesellschaft und im akademischen Leben einbringen.
Sie waren in der Türkei ein etablierter Sozialwissenschaftler, dann mussten sie flüchten, wie erleben Sie nun diesen Statusverlust in der Schweiz?
In der Türkei habe ich nicht nur als Soziologe gearbeitet, sondern war auch als Menschenrechtsaktivist tätig. Daneben habe ich mit meiner Promotion weitergemacht und sieben jahrelang eine Radiosendung geführt. Als ich aus der Türkei fliehen musste, musste ich alle meine Tätigkeiten aufgeben, die ich jahrelang unter erschwerten Bedingungen Schritt für Schritt aufgebaut habe. Für Geflüchtete wie mich wird das Leben komplett zurückgesetzt. Während des Jahres, das wir im Asylheim verbracht haben, konnte ich nichts tun, aber gleichzeitig auch kein neues Leben aufbauen. Denn bis zum Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung weiss man nie, ob man hierbleiben darf oder nicht. Diese Zeit ist wie im Fegefeuer. Nun muss ich in der Schweiz von vorne beginnen, ein neues Leben aufzubauen.
Können Sie uns über Ihre aktuellen Forschungsinteressen erzählen?
Als ich in der Türkei war, war mein Spezialgebiet das Gefängnissystem und die Rechte von Gefangenen. Zurzeit setze ich mich mit den Themen Einwanderung und Inhaftierung auseinander. Ich glaube, dass inter-thematische Studien neue Erkenntnisse ermöglichen, indem eine neue Perspektive eingebracht wird, wie auch bei interdisziplinären Studien. In EU-Ländern werden Ausländer*innen viermal häufiger inhaftiert als Einheimische. Es liegt klar auf der Hand, dass es da ein Problem gibt. Ich möchte diese Studie mit Fragen zu den Haftgründen, der Haftdauer, der Staatsangehörigkeit etc. vertiefen. Als anerkannter Flüchtling in der Schweiz interessieren mich natürlich auch die Probleme von Geflüchteten.
Mit welchen Herausforderungen sind Sie konfrontiert, wenn Sie Ihre Forschungsergebnisse in der Schweiz publizieren wollen?
Ich habe kein gutes Netzwerk in der Schweiz, um meine Studien zu publizieren. Ich hoffe sehr, dass ich mehr Kontakte knüpfen kann, sobald ich besser Deutsch spreche. Zurzeit veröffentliche ich meine Studien nur auf meiner persönlichen Webseite: https://mustafaeren.net/
Sie haben am Schnupperprojekt für Geflüchtete an der Universität Zürich (heute: START! Studium – Integrationsvorkurs an der UZH) teilgenommen.
Welchen Nutzen hat Ihnen die Teilnahme gebracht? Welche Bedeutung haben solche Projekte für geflüchtete Menschen in der Schweiz?
Am Schnupperprojekt habe ich in unserem ersten Jahr in der Schweiz teilgenommen. Damals lebten wir noch mit unseren zwei kleinen Kindern in einem kleinen Zimmer im Asylzentrum in Oberembrach. Wir hatten nur schwer Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Zur nächsten Bushaltestelle mussten wir 45 Minuten laufen. Weder Ort noch Raum waren für eine aktive Teilnahme am Programm geeignet. Aber die Teilnahme hat mir dabei geholfen, mich in der Schweiz zurecht zu finden und ich war sehr froh, wieder in das akademische Umfeld einsteigen zu können.
Dank solcher Projekte können geflüchtete Menschen ihre Ausbildung fortsetzen und später wieder ihren eigenen Beruf ausüben. Ausserdem können Geflüchtete dadurch der oft schwierigen Atmosphäre in den Asylzentren entfliehen. Aus diesem Grund müssen solche Projekte unbedingt fortgesetzt werden.
Was müsste sich verändern damit studentische / akademische Geflüchtete in der Schweiz bessere Bildungs-, Weiterbildungs- und Berufschancen haben?
Die zwei grössten Probleme für akademische Geflüchtete sind, die Sprachbarrieren und die Anerkennung von Diplomen. Viele Migrant*innen, die ich hier kennengelernt habe, arbeiten deshalb heute im Dienstleistungssektor, anstatt ihren erlernten Beruf auszuüben. Verbesserungen in diesen beiden Bereichen würden die Situation von Geflüchteten positiv beeinflussen.
Was würden Sie dem Bundesrat sagen, wenn Sie ihn persönlich treffen würden?
Die meisten Geflüchteten müssen in der Schweiz ein neues Leben aufbauen. Die Fähigkeiten, die sie in ihrem Heimatland erworben haben und die Karriere, die sie gemacht haben, werden hier ignoriert. Ich glaube, dass die ersten paar Jahre in einem neuen Land sehr wichtig sind. Diese bestimmen darüber, ob man eine begonnene berufliche Karriere fortsetzen kann. Weil aber viele Geflüchtete ihre Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft nicht nutzen können, wenden sie sich dem Dienstleistungssektor zu oder müssen über lange Zeit Sozialhilfe beziehen. Um das Potenzial und die Erfahrungen von Geflüchteten optimal nutzen zu können, müssten diese ersten Jahre gut geplant werden. Geflüchtete müssten als Hauptakteur*innen in diese Prozesse einbezogen und dabei unterstützt werden, sich selbst zu organisieren.
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Mein Ziel ist es, den Menschenrechtskampf, den ich in der Türkei geführt habe, zu internationalisieren. Ich hoffe, mich in zehn Jahren mit einem Fuss in der Akademie und mit dem anderen in einer Menschenrechts-NGO wiederfinden zu können. Ich weiss, es gilt viele Hindernisse zu überwinden, um diese Ziele zu verwirklichen. Dafür brauche ich Zeit.
Was wäre Ihr grösster Traum?
Mein grösster Traum wäre eine Welt ohne Grenzen, in der die Menschen in Frieden, Brüderlichkeit und gleichberechtigt leben können, ohne sich Sorgen um die Zukunft machen zu müssen.
Der aus der Türkei stammende Soziologe und Menschrechtsaktivist, Mustafa Eren, ist anerkannter Flüchtling und lebt seit zweieinhalb Jahren in der Schweiz.
Mustafa Eren hat einen BA-Abschluss in Soziologie der Mimar Sinan University of Fine Arts in Istanbul und einen MA-Abschluss in Cultural Studies der Istanbul Bilgi University. Sein Doktoratsstudium an der Mimar Sinan University of Fine Arts musste er aufgrund seiner Flucht unterbrechen. Interessieren Sie sich für die Forschungsarbeiten von Mustafa Eren? Mehr Informationen finden Sie auf seiner Webseite: https://mustafaeren.net/.